Donnerstag, 28. August 2014

Betteln um Aufmerksamkeit

Zwei Storys zur Wirkung von Werbung  



Manchmal lohnt es sich, seinen gewohnten Kontext zu verlassen und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. 

Setzen wir uns also auf den Boden. Nein, nicht im Büro. Sondern draußen, mitten in der Stadt an den Straßenrand als bettelnder Obdachloser. Es genügt, wenn Sie es in Gedanken tun. 




Das Spiel beginnt: Betteln um Aufmerksamkeit und Geld!

Gemäß der bekannten AIDA-Formel beginnt alle Werbung mit A wie Aufmerksamkeit. Wie aber erregt man Aufmerksamkeit? Und wie kann die einmal errungene Aufmerksamkeit in die gewünschte Aktion (= Spende) umgewandelt werden? Dazu zwei Storys, in beiden Fällen geht es um einen Bettler, das Spiel mit Gefühlen und die Identifikation mit der Zielgruppe.

Fotograf: Gerhard Bonse

Neulich habe ich im STERN dieses Bild gesehen. Ein Punk als Marketing-Stratege! Der Fotograf, der dieses Bild in Köln gemacht hat, betont dass die Idee sich als erfolgreich erwiesen hat. Es hat deutlich mehr Spenden gegeben. Sogar Hitler bekommt manchmal eine milde Gabe. 

Bevor ich  auf diesen wahren Fall zurückkomme, die andere Story. Sie kursiert seit ewigen Zeiten unter Werbetextern. Ein Bettler hat ein Pappschild vor sich aufgestellt. Darauf steht die schlichte Wahrheit: „Ich bin blind!“ Wenige Menschen spenden etwas. Ein vorübergehender Werbetexter hat Mitleid – und er hat eine Idee. Er nimmt das Schild und schreibt darauf: „Es ist Mai und ich bin blind!“ Logisch, dass die Passanten daraufhin mehr spenden.

Ich habe hier die deutsche Version erzählt, weil ich den deutschen Spruch sprachlich noch etwas überzeugender finde als den englischen rechts im Bild. Er stammt aus einem Video, mit dem eine britische Firma für sich wirbt. Ihr Claim lautet: „Change your words. Change your world.“  



Schauen Sie sich das Video einmal an. Es wurde insgesamt weit über 20-tausend Mal auf YouTube angeklickt. Eine herzzerreißende Szene. Die Menschen sind gerührt.

Hat sie im Wirkungsvergleich der beiden Storys die Nase vorn? Lassen wir mal unsere Gefühle beiseite und analysieren wir.

Story „Blinder“: Gesteigertes Mitleid   

Ich finde die Anekdote immer noch erhellend. Ein Muss für jeden Werber. Ich selbst habe sie als Referent vorgespielt. Es hat funktioniert. Die alte Pappe steht noch heute bei mir im Keller. Werbung muss die Herzen ansprechen. Ist doch klar  kann man gar nicht oft genug sagen. 

  • Allerdings ist die Aufgabenstellung in diesem Fall auch recht einfach. Ein armer, alter, blinder Mann! Die Bedürftigkeit ist offensichtlich. Jeder von uns kann sich sofort in die Situation hineinversetzen. Wer ist so herzlos, dass er da kein Mitleid empfindet? 
  • Dieses Gefühl zu vertiefen und anschaulich zu machen, was es bedeutet, blind zu sein, darum geht es. Die Sprüche, im Deutschen wie im Englischen, sind sprachliche Meisterwerke.
  • Gern sehe ich darüber hinweg, dass es sich um eine ausgedachte Geschichte handelt, bei der es mit der Glaubwürdigkeit etwas hapert. Hat der Mann den Spruch wirklich selbst geschrieben? Sitzt hier ein verkannter armer Poet? Diese Fragen würden sich die Passanten in Wirklichkeit wohl stellen. 

Ein schönes Beispiel dafür, wie Werbung im klassischen Sinne wirkt, ist die Story in jedem Fall. Und eine gute Motivation, fest an die Kraft der Worte zu glauben. Ganz anders dagegen liegt der Fall beim Punk.

Fotograf: Gerhard Bonse


Story „Punk“: Raffinierte  Offensive   

Die Ausgangslage für den Punk ist ungleich schwieriger. Jochen (so heißt der Obdachlose) ist offensichtlich nicht versehrt und im besten, arbeitsfähigen Alter. Auf das Mitleid der Passanten kann er wohl nicht zählen.

Und dennoch hat er die werbliche Aufgabe mit leichter Hand, wie ich finde, geradezu genial gelöst. Anscheinend hat er eine ganze Menge Menschenkenntnis, oder wie es im Marketing heißt, Blick für den "consumer insight". Schauen wir mal genauer hin.

  • Hier trumpft jemand mit entwaffnender Ehrlichkeit auf. Nach dem Motto „Ich weiß, was ihr denkt“  greift er die Vorurteile der Passanten elegant auf. Den Spruch „Aber nicht gleich versaufen!“, muss er sich jedenfalls nicht anhören.
  • Wer ihn nicht mag, kann ja für den Hund spenden. Der Hammer ist das  Wort „HITLER“. Zack, hat er den  Rassisten unter den Passanten eins ausgewischt!
  • Der ganze Auftritt ist selbstbewusst und frech, kein bisschen demütig und zurückhaltend. Es wird nicht an unser schlechtes Gewissen appelliert, sondern an unsere Großzügigkeit. Hier will jemand ohne Umweg übers Mitleid gleich ans Geld.
  • Auch optisch überzeugt der Punk. Ihm ist ein echter Hingucker gelungen! Ich bin sicher, dass viele Passanten stehen bleiben. „Boah, guck mal!“, werden sie sagen und mit ihren Handys Fotos machen. 
  • Um aufzufallen hat er den Raum perfekt genutzt und seine Werbefläche vergrößert. Vier Spendenbehälter, alle unterschiedlich in Form und Farbe. So involviert man seine Zielgruppe. „Vier Gründe zu spenden sind  besser als einer“, könnte man sagen.  Man sieht, mit Phantasie kann man auch aus einem alten Medium (Pappschild und Spendendose) etwas machen.
  • Sprachlich ist der Punk erst recht auf der Höhe der Zeit. Kein ganzer Satz, keine Argumentation, nur vier knackige Schlagwörter. Die aber haben es in sich und zwingen den Betrachter geradezu zum Nachdenken. Sie fordern seine persönliche Entscheidung heraus.
  • Zugleich hat das Ganze eine unglaubliche Leichtigkeit. Augenzwinkernd und ironisch kommt es daher. Hier will jemand den potentiellen Spendern die gute Laune nicht verderben.

Vergleichen Sie mal!

Die beiden Storys zeigen zwei unterschiedliche Wege auf, eine starke Werbewirkung zu erzielen. Eins ist klar, beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung. Welche die richtige ist, hängt von der Ausgangslage und von der Zielgruppe ab.

  • Der Blinde ist ein alter, bescheidener Invalide. Er wäre dumm, wenn er nicht konsequent an das Mitleid appellieren würde. Sein Spruch punktet bei älteren Menschen, besonders bei Frauen und solchen, die religiös eingestellt sind.
  • Der Punk ist ein gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter. Seine freche Aktion hat bei jungen Menschen Erfolg. Leute, die nicht für alles eine Erklärung suchen, die einen lockeren Lebensstil pflegen und ein entspannteres Verhältnis zu Alkohol und Drogen haben.


In einer Tabelle könnte man es so zusammenfassen:  

Story „Blinder”
Story „Punk“
Sentimental, traurig
Cool, witzig
Bescheiden, demütig, unterwürfig
Selbstbewusst, frech
Vernünftig
Verrückt
Argumentativ
Appellativ
Indirekt, verschlüsselt
Direkt, schnell
Mitleid, Nächstenliebe
Solidarität, Sympathie
Ernsthaft
Ironisch
Milde Gabe
Geld

Ein inspirierender Vergleich. Womöglich offenbart sich hier ein Trend. Sollten Sie den Punk in sich entdecken?
Wenn Sie möchten, können Sie die Tabelle selbst um weite Begriffspaare ergänzen.


Drei Tipps, wenn Sie coole Werbung  machen wollen
  • Nicht für alles Argumente finden!  Immer mehr Produkte unterscheiden sich immer weniger  von ihren Wettbewerbern. Oftmals können sie auch nicht mit einem höheren Nutzen aufwarten. Auf die Frage: „Warum soll ich das kaufen?“ kann die Antwort durchaus lauten: „Weil du es kannst!“
  • Probleme selbst erkennen und ansprechen!  Treten Sie nicht auf wie der Monarch in „Des Kaisers neue Kleider“!  Alle sehen Ihre Blößen und Sie tun so als ob nichts wäre. Wer offensiv mit seinen Schwächen umgeht, verschafft sich Respekt.
  • Die Dinge lockerer sehen! Signalisieren Sie Gelassenheit nach dem Motto „Nichts muss, alles kann.“  Alles andere wirkt sehr schnell verbissen und uncool.

Ich freue mich über jeden Kommentar. In einer Woche gibt es einen provokanten, lustigen Nachschlag.